Big John hat geschrieben:Das stimmt, das ist alles (wie auch beim Ukraine-Krieg) schwierig zu fassen. Es ist schwierig in Worte zu fassen, denn oft ist es in einer Diskussion auch wichtig, wie bspw Mimik oder Tonlage ist, um Sätze zu unterstreichen, oder nicht so ernst gemeinte Sätze hervorzuheben. Ich glaube, Du weißt wie ich meine. Ein Forum ist da fast die falsche Plattform bei so einem Thema, aber eine andere haben wir gerade nicht…. Wie dem auch sei, keineswegs nehme ich irgendeinen Satz von Dir „krumm“. Gerade, das stört mich sogar in der heutigen Zeit… Die Fronten sind oft verhärtet, es gibt nur noch schwarz oder weiss. Bei FB „provokante“ Posts teilen, aber am Stammtisch nicht mehr den Mund aufbekommen, das stört mich alles viel mehr, als eine andere Draufsicht. Schon gar nicht, wenn es sich um einen Celtic Fan handelt, den ich kenne. Insofern: Youre Welcome!
Hail Hail Big John und erstmal ganz generell, vielen Dank für diese ausführliche Antwort! Ich stimme dir absolut zu, dass es leichter wäre, sich zu so schweren Themen persönlicher und direkter zu unterhalten als das in dieser Form hier möglich ist. Aber ich glaube auch, jede Form von Dialog und Austausch ist besser als Schweigen und ein Rückzug in die eigenen Meinungsblasen. Davon haben wir aktuell viel zu viel, das sehe ich genau wie du, und insofern bin ich in gewisser Weise wirklich froh über dieses Gespräch, auch wenn Anlass und Thema natürlich alles andere als erfreulich sind.
Big John hat geschrieben:Ich denke in dem kurz gegriffenen Satz von mir, habe ich nicht gut genug herausgearbeitet um was es mir geht… Es geht mir um die ständige Doppelmoral bzw Doppelstandards in dieser Welt… Das ist zwar jetzt ein wenig sehr pauschal und nicht differenziert, aber probieren wir es mal…
Beispiele zum Israel Konflikt: In den Diskussionsrunden werden / wurden palästinensische Vertreter eingeladen. Wenn der erste Satz nicht ein distanzierender war, kam er gleich gar nicht mehr zu Wort. Auf Fehler der Politik von Israel darf man kaum noch hinweisen… Schau Dir mal Talkrunden zu den Themen vor Jahren an… Das wäre heute / aktuell undenkbar….
Merz schlägt vor, dass man sich bei Einreise gegen Antisemitismus aussprechen muss. Scholz sieht das höchste Staatsräson die Sicherheit von Isreal. Baerbock sieht uns alle als Isrealis aktuell. Kiesewetter würde mit unseren Leben die Sicherheit verteidigen wollen.
Ich finde mich in diesen ganzen Sätzen nicht wieder. Darf dieser Populismus nur auf einer Seite angewandt werden?
Doppelstandards mag ich genauso wenig wie du und halte ich für ein großes Problem, dazu gleich nochmal mehr. In deinen Beispielen kann ich aber ehrlich gesagt nicht erkennen, inwiefern da mit zweierlei Maß gemessen werden soll. Vor allem aber ist mir der Satz "auf Fehler der Politik von Israel darf man kaum noch hinweisen" einfach viel zu pauschal und entspricht absolut nicht meiner Wahrnehmung. Doch, selbstverständlich darf man das und es passiert auch allerorten! Ich kenne keine einzige Zeitung und habe nicht eine einzige Talkshow zu dem Thema gesehen, in der auch nicht genau das geschehen würde. Und diese Kritik ist, ich schrieb es ja bereits, generell auch oftmals richtig und angebracht (on a sidenote: niemand weiß das besser als die israelische Zivilbevölkerung, die ja regelmäßig ihre Stimme gegen die eigene Regierungspolitik erhebt).
Wer es allerdings selbst in direkter Reaktion auf das barbarische Massenmorden der Hamas vom 7. Oktober nicht schafft, dieses in seiner singulären Grausamkeit erstmal einfach nur zu benennen und zu verurteilen ohne direkt ein "ja, aber..." nachzuschieben, wer ein blutrünstige Massaker nicht als solches bezeichnen kann, ohne den Opfern im nächsten Satz indirekt gleich wieder eine Mitschuld zuzuschieben, der hat sich in meinen Augen moralisch diskreditiert und braucht sich über Gegenwind dann auch nicht zu beklagen.
Und was die Politiker Statements angeht, die du zitierst: wo findet sich denn da Doppelmoral? All diese Aussagen beziehen sich auf das Diktum (formuliert meine ich zum ersten Mal durch Angela Merkel), dass die Sicherheit Israels Teil der Deutschen Staatsräson ist. Diese Formel ist seitdem ja zu einer Art oft zitiertem politischem Allgemeingut geworden (zuletzt eben durch Scholz, Baerbock und auch Habeck) aber kaum jemand buchstabiert mal aus, was das im einzelnen konkret politisch oder ggfls auch militärisch bedeuten würde. Der Begriff der Staatsräson kommt ja ursprünglich aus der Gedankenwelt des frühen 17. Jahrhunderts, wurde aber in bundesrepublikanischer Zeit weder staatstheoretisch noch juristisch jemals kodifiziert.
Generell ist damit natürlich gemeint, dass Deutschland, nachdem es den Versuch unternommen hat, jüdisches Leben letztlich auf der ganzen Welt auszulöschen (und damit leider auch furchtbar weit gekommen ist) nun seine besondere und fundamentale Verpflichtung und Verantwortung darin sieht, jüdisches Leben zu schützen, und zwar nicht nur innerhalb der eigenen Grenzen sondern weltweit und damit insbesondere eben auch in Israel, das ja 1948 maßgeblich vor dem Hintergrund des Holocaust und Antisemitismus gegründet wurde, um ein sicherer Hafen für alle Juden weltweit zu sein.
Ich halte das als Konsequenz aus unserer Geschichte für absolut richtig und finde es deshalb auch gut, wenn Politiker (wie in deinen Beispielen Scholz und Baerbock) sich öffentlich darauf berufen und das damit bekräftigen. Schwierig finde ich persönlich es nur, wenn dann die Lücke zwischen Reden und Handeln so für jeden offensichtlich riesig wird, wenn zum Beispiel die deutsche Regierung sich bei der UN ein paar Tage nach solchen Statements bei der von mir schon erwähnten Resolution einmal mehr enthält. Oder es immer wieder zulässt, dass in der deutschen Hauptstadt und anderswo dem antisemitischen Mob regelmäßig die Straße gehört, wenn er sie haben will, dass Juden in Deutschland sich wieder verstecken müssen...
Und insofern finde ich es noch wichtiger, dass andere Politiker (in deinen Beispielen jetzt Merz und Kiesewetter) sich auch Gedanken darüber machen, was so ein Satz denn konkret bedeutet damit er eben keine reine Leerformel ist. Ob man den von dir erwähnten Vorschlägen jetzt inhaltlich zustimmt oder nicht, aber wir als Gesellschaft müssen doch darüber diskutieren, wie man ein solches Garantieversprechen mit Leben füllen kann. Doppelstandards geschweige denn Populismus vermag ich darin nun wirklich beim besten Willen nicht zu erkennen.
Big John hat geschrieben:Dass innerhalb der EU die Iren und Nordiren eine andere Draufsicht haben, begründet sich aus deren Vergangenheit. Klar sind das auch Äpfel mit Birnen verglichen, aber wir alle haben das nicht erlebt, was die erlebt haben…
Wie wäre unsere Meinung, wenn die Briten den katholischen Teil von Derry zerstören? (Auch wieder kein so gutes Beispiel, aber ich glaube du kannst einschätzen wir ich es meine)
Ja, diese andere Draufsicht kenne ich natürlich auch sehr gut, Gott weiß wie viele Stunden Diskussionen ich dort deswegen schon hatte...
Aber du sagst es ja schon selber, der Vergleich hinkt einfach an allen Ecken und Enden. In Irland betrachtet man den Naostkonflikt als Spiegel des eigenen antikolonialen Befreiungskampfes und ähnlich stellt es sich wohl in weiten Teilen des heute sog. globalen Südens und auch in weiten Teilen des westlichen linken Aktivismus dar, wo Israel als bevorzugtes Feindbild „antiimperialistischer“ und „postkolonialer“ Positionierungen herhalten muss. Die Vorstellung von Israel als einem „kolonialen Siedlerstaat“ und als dem ewigem Aggressor ist allerdings ein Zerrbild, es folgt den Vorgaben der arabischen Propaganda (beispielhaft findet sich in der Palästinensischen Nationalcharta von 1968 der Satz, der Zionismus sei „organisch mit dem Weltimperialismus verbunden“ und verhalte sich „gegenüber allen Befreiungs- und Fortschrittsbewegungen der Welt feindlich“) und hält einer historischen Überprüfung schlicht und einfach nicht stand.
Wer sich dafür wirklich en detail interessiert, erst letztes Jahr ist dazu
diese sehr fundierte historische Studie erschienen, die ich sehr empfehlen kann. In Wahrheit war Israel alles andere als eine Fabrikation westlicher „Imperialisten“ – es war das Projekt der antifaschistischen, antirassistischen, antikolonialistischen, antiimperialistischen Linken, zeitweise gegen den ausdrücklichen Widerstand von Großbritannien und den USA. Aber wer von denen, die Israel so gerne als Projektionsfläche für die eigenen Emotionen und Ambitionen heranziehen, liest schon Geschichtsbücher (oder würde den Staat Israel auch nur ohne Hilfe auf der Landkarte finden)?
Big John hat geschrieben:Schau Dir mal Satellitenaufnahmen von Gaza an… Gaza wird aktuell dem Böden gleich gemacht. Wir nähern und den 10.000 Toten und darunter fast zu 1/3 Kinder. Darf sich Israel nicht wehren? Klar, müssen Sie sogar. Aber es muss auch erlaubt sein, irgendwann eine Änderung zu fordern. Stattdessen sehen wir die Taten und versprechen mehr Waffen und Geld. Spanien beispielsweise hat andere Stimmen, auch in der Öffentlichkeit.
Verstehe mich nicht falsch, ich sehe Israel hier nicht als Täter (tolles Wort dieses Täter-Opferumkehr), aber was wollen wir? Dass da am Ender keine mehr wohnen kann? Dass dort am Ende wieder „Siedler“ (hört sich ehrlich gesagt viel zu nett an) leben?
Zunächst mal, die von dir genannten Zahlen sind sehr mit Vorsicht zu genießen. Alles was momentan an zahlenmäßigen Angaben zu palästinensischen Opfern aus dem Gazastreifen kommt, basiert auf Verlautbarungen des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums. Und dass Informationen, die von Terroristen, Mördern und Entführern kommen, nicht zu trauen ist, dass die vorsätzlich lügen weil das Teil ihrer Kriegführung ist, das muss ich ja wohl niemandem erklären. Die Geschichte um das Al-Ahli Krankenhaus vor zwei Wochen ist das beste Beispiel für diesen Informationskrieg, da hieß es auf einmal überall, eine israelische Rakete sei dort eingeschlagen, von 500 Toten war die Rede...seitdem gibt es dutzende Belege dafür, dass es sich in Wahrheit um eine fehlgeleitete Rakete gehandelt hatte, die der Islamische Dschihad AUF Israel abgefeuert hatte, dass sie auf dem Parkplatz vor statt in dem Krankenhaus eingeschlagen hatte und dass die Zahl der Toten sich eher auf 50 statt 500 belief (immernoch 50 zuviel natürlich, gar keine Frage). Aber da waren die aufgeheizten Massen in den arabischen Staaten schon auf der Straße und auch im Westen diverse Pressemitteilungen und Protestnoten gegen Israel bereits veröffentlicht...
Natürlich kann man davon ausgehen, dass es viele viele Opfer unter der palästinensichen Bevölkerung gibt gerade und auch mich macht das betroffen. Aber man sollte sich trotzdem nicht zum Instrument der Hamas in ihrem Informationskrieg machen lassen.
Und ja, die toten Zivilisten im Gaza-Streifen sind schrecklich. Aber weshalb richten sich alle Friedensappelle und Forderungen ausschließlich an Israel? Die Hamas hat diesen Krieg ausgelöst und sie hat mehrfach öffentlich verkündet, dass sie nicht aufhören wird Israel auch weiterhin anzugreifen, auf dieselbe Art wie am 7. Oktober. Solange die Hamas in Gaza herrscht, kann und wird es keinen Frieden geben. Sobald sie die Waffen niederlegt, hört der Krieg auf, aber das wird sie freiwillig nicht tun (und insofern trägt sie auch die Hauptverantwortung für die Opfer dieses Krieges).
"Was wollen wir?" Nunja, ich wünschte ja, es bestünde ein sehr breiter Konsens darüber, dass man eine mordende Terrororganisation zerschlagen muss, die Säuglinge verbrennt, Frauen vergewaltigt (und dann hinrichtet) und Senioren enthauptet. Dass dem ganz offensichtlich nicht so ist, wenn ich mich auf den Straßen und in den Kommentarspalten so umsehe, das sagt zum Zustand der Welt ganz allgemein leider auch einiges aus.
Aber für die Israelis gibt es gerade emotional, aber auch strategisch keine andere Option, als die Hamas und ihre Strukturen auszuschalten. Das ist völkerrechtlich legitim und das ist auch, da bin ich mir sehr sicher, was jeder einzelne von seinem Staat erwarten würde, wenn ihm vergleichbares widerfahren wäre. Eine Einstellung des Kampfes zum jetzigen Zeitpunkt würde bedeuten, dass man die Hamas bestehen lässt, es wäre im Prinzip ein Sieg für die Hamas.
Gleichzeitig verschanzt die Hamas sich hinter ihrer eigenen Bevölkerung und baut ihre Tunnelsysteme unter Krankenhäusern und Moscheen. Sie preist die zivilen Opfer auch ein, forciert sie sogar, weil sie weiß, dass ein solcher Krieg einen hohen Blutzoll fordern wird und dass die internationale Meinung irgendwann kippt. Das macht diesen Krieg für die Israelis extrem schwer zu führen und dabei kommen viele (und viel zu viele) Zivilisten zu Tode. Aber Israel, und das ist der entscheidende Unterschied, handelt offenkundig nicht mit der Absicht, palästinensische Zivilisten zu töten, im Gegenteil. Sie haben tagelang die Zivilbevölkerung gewarnt, bestimmte Gebiete zu verlassen, haben Fluchtrouten gekennzeichnet und garantiert, diese nicht anzugreifen und haben ihre Bodenoffensive um Wochen verzögert um möglichst vielen die Chance zu geben den Norden Gazas zu verlassen. Was aber sollen sie dann machen, wenn beträchtliche Teile der Bevölkerung weiterhinin diesen Gebieten bleiben, ob aus Zwang durch die Hamas oder freiwillig, und sich mitten unter ihr Hamas-Führungskader verstecken. Nicht angreifen, sich aber weiter beschießen lassen? Ist es das, was wir als Betroffene in solch einer Situation tun/wollen würden? Liegt die Schuld an den dann zu erwartenden Opfern nicht viel eher bei der Hamas, die menschliche Schutzschilde nutzt, die nachweisbar militärische Einrichtungen jedweder Art unter der Zivilbevölkerung, ja sogar unter Schulen, Krankenhäusern und UN-Anlagen baut?
Was kurzfristig passieren müsste, damit das Leiden und Sterben in Gaza ein Ende hat:
- Freilassung der Geiseln
- Kapitulation der Hamas
- Waffenstillstand
In dieser Reihenfolge. Aber kein einseitiger Verzicht auf Israels Recht der Selbstverteidigung.
Big John hat geschrieben:Diese ständige Doppelstandars sind es, welche mir mehr und mehr zu schaffen machen. Gollum, ich schaue niemadem in den Pass, wenn er stirbt. Nicht einem Russen, nicht einem Palästinenser oder Ukrainer. Das ist immer einer zu viel.
Das ehrt dich und selbstverständlich nehme ich dir persönlich diese Einstellung auch zu 100% ab. Aber natürlich hierarchisieren wir alle, was unsere Aufmerksamkeit für Koflikte und für Opfer angeht. Die Balkankriege haben in Europa beispielsweise tausendmal mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Kongokriege, obwohl letztere was die Zahl der Opfer angeht unvergleichlich viel verheerender waren (wer kennt auch nur die Zahl von 6-12 Millionen Kriegsopfern?). Das liegt ein Stück weit in der Natur der Menschen, geographische und kulturelle Nähe und damit einhergehend auch Auswirkungen auf den eigenen Staat/das eigene Leben spielen da immer eine Rolle. Man kann das also verargumentieren, so bitter es auch ist, aber letztlich sind es auch Doppelstandards.
Aber bei keinem anderen Fall weltweit ist dieser Doppelstandard so ausgeprägt wie beim Naost-Konflikt. Und da greifen auch die eben genannten Erklärungsmuster nicht mehr. Klar könnte man sagen, die muslimische Welt nimmt am Schicksal der Palästinenser eben besonderen Anteil, weil es sich bei denen überwiegend auch um Muslime handelt, aber wenn man mal auch nur ein bisschen genauer hinsieht merkt man schnell, dass das nicht hinhaut. Denn wo waren die Proteste in der muslimischen Welt, als syrische Städte, nur wenige 100km weiter, ausgehungert, Wohnquartiere und Krankenhäuser gezielt bombardiert und hunderttausende Zivilisten getötet/Millionen vertrieben wurden? Weshalb gab es keine Friedensdemos für den Jemen, wo im Stellvertreterkrieg zwischen Saudi Arabien und Iran in den vergangenen Jahren ebenfalls Hunderttausende gestorben sind und aktuell ca 2,2 Millionen Kinder an Unterernährung leiden? Wer in der muslimischen Welt interessiert sich für das Schicksal der Rohingya, die in Myanmar Opfer von Vertreibung und ethnischer Säuberung wurden? Gab es irgendwelche bedeutenden Proteste, als man von den ersten chinesischen Arbeitslagern für die Uiguren erfuhr?
Und selbst die Palästinenser interessieren wenn man ehrlich ist nur in Zusammenhang mit Israel. Assad hat Palästinensische Flüchtlingslager mit Fassbomben angegriffen. Aufschrei? Fehlanzeige! Die arabischen Staaten verweigern den teilweise seit 1948 schon auf ihrem Territorium lebenden Palästinensern bis heute die vollen Bürgerrechte, die leben seit Generationen vollkommen perspektivlos in riesigen Flüchtlingslagern, weil sich mit ihrem Leid und dem plakativen Feindbild Israel bequem Politik machen und das eigene Machtstreben kaschieren lässt. Die Blockade des Gazastreifens durch Israel wird allerorten kritisiert, obwohl die Hamas von dort aus 2008, 2012, 2014, 2021 und 2023 Kriege gegen das Land begonnen hat (vom dauerhaften Raketenbeschuss mal abgesehen). Wer kritisiert, dass Ägypten, der arabische "Bruderstaat", den Gazastreifen genauso blockiert, obwohl sie nie das Ziel solcher Angriffe waren?
Und "wir" hier im Westen sind auch nicht viel besser, der Naost-Konflikt dominiert unsere Berichterstattungen, Talkshows, Straßen...ganz ehrlich, wer hat überhaupt mitbekommen, dass Erdogan (ja, genau der, der sich gerade an die Spitze des Protests gegen die israelische Offensive in Gaza setzt) die letzten Wochen dazu genutzt hat, rund 80% der zivilen Infrastruktur (Elektrizität, Wasser, Gesundheit etc) in den Kurdengebieten Nordostsyriens platt zu bomben? Dass er dort regelmäßig kurdische Dörfer und Flüchtlingslager mit der Luftwaffe angreift? Dass er schon seit 2018 das kurdische Kanton Afrin völkerrechtswidrig besetzt hält und inzwischen nahezu vollständig ethnisch gesäubert und seitdem gezielt mit Arabern, darunter übrigens viele syrische Palästinenser, besiedelt hat? Wer hat sich ernsthaft dafür interessiert, dass Aserbaidschan vor wenigen Wochen Bergkarabach überrannt und die armenische Bevölkerung, die dort seit Jahrtausenden ansässig war, nahezu vollständig vertrieben hat? Nach einer neunmonatigen Totalblockade übrigens, die zu Krankheiten und Mangelernährung, insbesondere bei Kindern, geführt hat? Die Öffentlichkeit nicht, die Medien nicht, die Politik nicht und unsere Green Brigade mit ihrem hehren Anspruch, solidarisch mit den Unterdrückten dieser Welt sein zu wollen, erst recht nicht.
Können wir angesichts all dieser Beispiele wirklich für uns in Anspruch nehmen, dass wir keinen Unterschied machen zwischen den Opfern, dass uns alle gleichermaßen interessieren? Und wenn nicht sollten wir uns mal ehrlich fragen, warum uns Kurden und Armenier weniger Aufmerksamkeit Wert sind als Palästinenser.
DAS sind Doppelstandards und die Liste lässt sich ewig fortsetzen. Palästinensische Flüchtlinge sind beispielsweise die einzigen weltweit, die von der allgemein geltenden Genfer Flüchtlingskonvention ausgenommen sind bzw eine eigene, nur für sie geltende Regelung bekommen haben. Damit geht zum Beispiel einher, dass ihr Flüchtlingsstatus auf Nachkommen vererbt wird (womit aus den rund 700.00, die im Zuge der Staatsgründung Israels geflohen sind, inzwischen 5,9 Millionen geworden sind). Bei der UN gibt es ein Flüchtlingshilfswerk für sämtliche Flüchtlinge weltweit (UNHCR) mit Ausnahme der Palästinenser, die haben ihr eigenes (UNRWA), das natürlich um ein vielfaches besser finanziell ausgestattet ist (alleine Deutschland überweist jedes Jahr €150m). Seit 1947 wurden über 1.000 UNO-Resolutionen zum arabisch-israelischen Konflikt verabschiedet. Mehr als 170 davon behandeln das Schicksal der 700.000 palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen. Keine einzige beschäftigt sich mit dem Schicksal der rund 850.000 jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern und dem Iran, die im selben Zeitraum vertrieben wurden, und ihrer Nachkommen.
Und angesichts all dessen jetzt nochmal die Frage, können wir was den Naost-Konflikt angeht wirklich für uns in Anspruch nehmen niemandem in den Pass zu schauen?
Big John hat geschrieben:Aber nehmen wir mal den Ukraine Konflikt… Ein Putin, der unter Standing Ovation im Bundestag spricht, mit dem wir Milliardenprojekte planen, ist plötzlich der schlimmste Kriegsverbrecher. Im Jahre 2014 hatte die ARD und das ZDF noch vermehrt, die Urkainer gerügt, wegen der Nähe zu den Nazis (Symbole, Worte, Reden etc).
Heute verteidigen die unsere westliche Welt… Die USA haben damals im Hintergrund alle „Weichen“ gestellt. Jetzt Kaufen wir zigfach teureres Fracking(Fucking) Gas aus den USA und die Piplenes sind hinüber…. Ein Schelm, der was böses denkt!
Auch hier, wie soll das deiner Meinung nach weitergehen? (Nicht um Dich zu provozieren, sondern um Dich ehrlich zu fragen).
Putin ist nicht plötzlich ein schlimmer Kriegsverbrecher, es war es von Anfang an! Der zweite Tschetschenienkrieg ab 1999, der Krieg in Georgien 2008, der Krieg in der Ostukraine ab 2014 inklusive Annexion der Krim und Abschuss eines niederländischen Passagierflugzeugs, der russische Krieg in Syrien ab 2015...und jeder dieser Kriege war geprägt von schweren Menschenrechtsverletzungen. Es war völlig offensichtlich was Putin für ein Typ ist und jeder hätte es sehen können, nein müssen! Aber die toxische Mischung aus wirtschaftlichen Interessen und Verflechtungen (inklusive persönlicher Bereicherung in einigen Fällen) und den deutschen Russland Illusionen, die auf einer Verherrlichung und Missinterpretation der Ostpolitik von Egon Bahr und Willy Brandt und der Idee von "Wandel durch Annäherung" basiert, also letztlich aus Gier, Korruption, Realitätsverweigerung und Naivität, hat dazu geführt, dass man all diese offensichtlichen Dinge immer wieder ignoriert und verharmlost hat, bis nach der Totalinvasion der Ukraine seit 2022 der Krieg dann doch zu nah kam, als dass man ihn weiter ignorieren konnte.
Deutschland hat den Vertrag für Nord Stream 2 tatsächlich noch 2015 unterschrieben, ein Jahr nach Putins Angriff auf die Ukraine. Gebetsmühlenartig wurde dieser Satz wiederholt, dass es sich bei diesen Pipelines um ein rein wirtschaftliches Projekt handeln würde, das mit Politik nichts zu tun habe. Das war natürlich ein schlechter Witz, es war offensichtlich, dass der Sinn der Pipelines aus russischer Sicht darin bestand, die Ukraine als Transitland auszuschalten um sie sich ggfls leichter einverleiben zu können. Und insofern war auch vollkommen klar, wer Nord Stream 1 und Nord Stream 2 unterstützt, der bezahlt damit Putins Kriegsmaschinerie. Damit hat Deutschland Putin ein Stück weit den Weg in die Ukraine geebnet.
Die russische Propaganda hat leider immer sehr gut verfangen bei uns. Ganz egal, ob Putins Russland die Zivilbevölkerung in Syrien bombardierte, jegliche Opposition im eigenen Land unterdrückte, die Krim annektierte und die Ostukraine mit Krieg überzog oder missliebige Personen im Ausland ermorden ließ (unter anderem mitten in Berlin). in jeder Talkshow, gerade auch in ARD und ZDF, saß irgendein Putin-Apologet, der das Best-Of der Kreml-Lügen zum Besten gab. Putin sei quasi provoziert worden, die NATO-Osterweiterung hätte zu einer Einkreisung Russlands geführt, die Ukraine sei nur ein Handlanger des Westens, die deutschen Medien würden Putin dämonisierend die eigentlichen Aggressoren seien die USA und die NATO…und immer wieder ging es darum „Putin zu verstehen“, als ob der ein besonders delikater Fall der öffentlichen Psychoanalyse sei. Dabei hätte nicht Putin auf die Couch gehört, sondern die deutsche Politik, die sich wie ein hartnäckiger Psychose-Patient jahrelang weigerte, die Realität in Osteuropa zur Kenntnis zu nehmen.
In diese Reihe der Putin-Propaganda, die in der deutschen Gesellschaft ein verstörend breites Echo gefunden hat, gehört im übrigen auch das Narrativ von einer angeblichen Nazinähe der Ukraine und von amerikanischen Strippenziehern im Hintergrund des Maidan. Bis heute hört man das, ja, dass Russland die Ukraine überfallen hat und nicht umgekehrt, das mag sein, und dass Putin keinen Vertrag einhält, immerfort lügt, die eigene Bevölkerung unterdrückt und Oppositionelle in Lagern verschwinden lässt oder liquidiert, auch schon andere Vernichtungskriege geführt hat und von einem eurasischen Reich von Wladiwostok bis Lissabon fantasiert, das mag vielleicht auch sein – ABER die NATO und die Amis, und die Oligarchen und Nazis in der Ukraine, das dürfe man ja auch nicht außen vor lassen bei der richtigen Bewertung der Kamikazedrohnen, die sich auf die ukrainischen Städte stürzen.
Die Wahrheit ist, in der Ukraine hatten rechtsradikale Parteien bei so ziemlich allen Wahlen deutlich niedrigere Zustimmungswerte als in so ziemlich jedem westeuropäischen Land, inklusive dem unseren. Und die USA hatten nie ein Interesse an einem verstärkten Engagement in der Ukraine, geschweige denn an einem Krieg dort. Die würden ihre Kräfte tausendmal lieber auf den Pazifik und die Eindämmung Chinas konzentrieren. Dass sie trotzdem die Hilfe leisten, zu der die Europäer tragischerweise weder Willens noch in der Lage sind muss man ihnen hoch anrechnen, denn sonst würde die Ukraine heute wohl schon nicht mehr existieren und Putins Soldateska würde inzwischen an die Türen des Baltikums anklopfen. Und auch für die deutsche Energiekrise können wir sie nicht verantwortlich machen, dass haben wir ganz alleine verbockt, indem wir erst ohne Not aus der sicheren und CO2 armen Kernkraft ausgestiegen sind und uns dann freiwillig in die totale Energieabhängigkeit von Putins Verbrecherstaat begeben haben. Alle bekannten Indizien deuten daraufhin, dass die Russen die Pipelines selbst gesprengt haben aber am Ende des Tages ist es auch egal, Gott sei Dank sind die Dinger hinüber, sie hätten nie gebaut werden dürfen.
Wie soll es weitergehen? Wichtig wäre auch hier zunächst einmal die Erkenntnis, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt. Russland könnte sofort für Frieden sorgen, indem es sich vom ukrainischen Staatsgebiet zurückzieht, in dem Moment indem die Ukraine aber aufhört zu kämpfen hört sie auch auf zu existieren. Und Putin hat wiederholt klar gemacht, dass er nicht nachlassen wird mit seinem Vernichtungskrieg, mit dem Zerstören, Bombardieren und Morden, bis von der Ukraine nichts mehr übrig ist. Er hat sein Land auf Kriegswirtschaft umgestellt, lässt sich mehr Raketen, Drohnen und Artilleriemunition aus dem Iran und Nordkorea liefern denn je und setzt drauf, dass er den längeren Atem hat als der zerstrittene, wankelmütige und kriegsmüde Westen.
Und der (also wir alle) muss verstehen, dass es in seinem eigenen Interesse ist, die Freiheit der Ukraine zu verteidigen und das heißt, ihre Souveränität in den Grenzen von 1991 wiederherzustellen. Weil sie sonst zu einer Blaupause wird für China gegenüber Taiwan, Serbien gegenüber Kosovo oder Iran, weitere Brandherde in Naost zu schaffen. Wir brauchen endlich eine klare Haltung, gemeinsame Ziele und eine echte Strategie, wenn wir die regelbasierte Ordnung erhalten wollen, denn so defizitär sie zweifellos auch war und ist, die Alternativen sind weitaus beängstigender. Eine autokratische Allianz Russland, Iran, China, Nordkorea plus jeweilige Proxys arbeitet koordiniert an einer Schwächung des Westens und testet wieder und wieder unsere Verteidigungsbereitschaft, das muss uns klar sein. Wenn Russland gewinnt und die Ukraine zerfällt werden die Szenarien für die Bevölkerung Europas fürchterlich sein. Deshalb muss unsere Unterstützung für die Ukraine massiv erhöht werden und eine faire Lastenteilung Europas mit den USA erfolgen.
Big John hat geschrieben:Ich habe nie geschrieben, dass Scholz nicht nach Israel reisen soll…. Aber eine Kippa tragen und sich anhören zu müssen, was die Deutschen verbrochen haben, damit Netanjahu dann wirklich alles mitgenommen hat. Wie siehst Du das? Reist er dann auch in einer Burka nach Saudi-Arabien, wenn wir dann wieder Gas oder Öl brauchen? Helmut Schmidt hat es einmal gut auf den Punkt gebracht… Kritik an Israel führt meist dazu, als Antisemit hingestellt zu werden. Eine wirkliche Diskussion ist doch gar nicht gewünscht. Vielleicht unter uns, aber nicht in der Öffentlichkeit oder Politik.
Naja, also zunächst einmal hat Scholz ja bei seinem jüngsten Besuch in Israel überhaupt keine Kippa getragen. Er hat das aber in der Tat schon ein paarmal getan, allerdings in Deutschland, als er Synagogen und Gedenkstätten besucht hat, auch heute wieder anlässlich des 85. Jahrestages der Pogromnacht der Nazis. Und wenn du mich fragst wie ich das sehe, ich wüsste nicht was für ein Problem ich damit haben sollte. Ich habe als ich in Israel war auch selber ein paarmal so eine Art Behelfskippa (aus Papier getragen), an der Klagemauer zB., da werden die verteilt. Im Judentum gibt es die Vorstellung, dass man nicht barhäuptig vor Gott treten soll und wenn man einen für Juden heiligen Ort besucht ist das in meinen Augen einfach ein Zeichen des Respekts, genauso wie ich mir auch die Schuhe ausgezogen habe, als ich mal in einer Moschee war.
Dazu kommt, gerade an einem Tag wie heute, auch noch ein weiterer Aspekt, nämlich ein Zeichen zu setzen, dass jüdisches Leben hierher gehört und seinen Platz hier haben muss. In Zeiten, in denen sich Berichte häufen, dass Menschen mit Kippa oder dem Davidsstern auf deutschen Straßen bedroht, angespuckt und angegriffen werden, in denen Juden wieder das Gefühl haben, ihr jüdischsein hierzulande verstecken zu müssen, finde ich auch das absolut richtig und angebracht. Meine Kritik würde sich eher dagegen richten, dass der Symbolpolitik in Form solcher öffentlichkeitswirksamer Zeichen oftmals leider keine oder zu wenig konkrete Realpolitik folgt, da sind wir wieder bei der Lücke zwischen Reden und Handeln, aber an dem Zeichen selber kann ich nichts kritikwürdiges finden.
Und zu der Frage mit der Burka: der Vergleich hinkt in ganz vielen Hinsichten. Für Scholz als Mann gäbe es in islamischen Ländern natürlich sowieso keinerlei Verschleierungsanlass. Westliche und auch deutsche Politikerinnen haben in der Vergangenheit bei Staatsbesuchen vor allem in Iran, wo das Tragen eines Kopftuches auch für ausländische Besucherinnen vorgeschrieben ist, aber durchaus ein solches angelegt. Das finde ich allerdings tatsächlich falsch, im Gegensatz zur Kippa ist das Kopftuch ja nicht etwas, das nur an bestimmten religiösen Orten oder zu religiösen Anlässen getragen wird, sondern das Frauen in der Öffentlichkeit immer zu tragen haben. Und der entscheidende Punkt ist eben das müssen, es ist mit Zwang verbunden. Niemand wird gezwungen irgendwo oder irgendwann eine Kippa zu tragen aber in diesen Staaten kann es dir Gefängnis oder sogar den Tod einbringen, wenn du dich als Frau über den Kopftuchzwang hinwegsetzt. Das ist zutiefst falsch und widerspricht fundamental den universalen Menschenrechten. Und insofern sehe ich es in so einem Fall dann auch nicht als Zeichen des Respekts sondern der Unterwerfung, wenn man sich diesen Gesetzen beugt, man könnte auch von Verrat an den mutigen Frauen dort sprechen, die dagegen aufbegehren und für die Freiheit von solchen Zwängen ihr Leben riskiert und teilweise auch gelassen haben.
Der hier zuletzt ja ziemlich oft zitierte Helmut Schmidt hat gerade im hohen Alter auch einiges an Unsinn geredet und dieser Satz gehört zweifellos dazu. Es ist ohne weiteres möglich Israel zu kritisieren und das passiert auch überall und ständig (und ist auch richtig so). Gerade der von dir ins Spiel gebrachte Besuch von Netanjahu in Deutschland (der, bei dem Scholz dann zwischendurch eine Kippa aufsetzte) ist doch ein gutes Beispiel dafür, da gab es sehr deutliche Worte des Kanzlers in Richtung seines Gastes hinsichtlich der geplanten israelischen Justizreform. Und auch sonst lese und höre ich überall teilweise berechtigte teilweise auch überzogene aber immer offen artikulierte Kritik an Israel ohne dass die in irgendeiner Form mit Antisemitismus in Verbindung gebracht würde. Diese Vorstellung, man könne in Deutschland oder als Deutscher Israel nicht kritisieren ohne eine angebliche "Antisemitismuskeule" ist ein absoluter Strohmann, die Empirie beweist das Gegenteil.
Aber natürlich gibt es neben der berechtigten Kritik auch viele Fälle, in denen die Grenze zum Antisemitismus in der Tat überschritten wird. Der Autor Natan Scharanski hat mal eine gute Methode entwickelt, um legitime Kritik an der Politik Israels bzw an dessen Regierung von Antisemitismus zu unterscheiden, den sog. 3-D-Test. Die drei Kriterien, an denen man antisemitische Tendenzen in der Kritik an Israel erkennen kann, sind demnach Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung.
Gerade über die Doppelstandards haben wir ja schon viel gesprochen...und wer in seiner Kritik am Staat Israel oder dessen Regierung nicht ohne diese Elemente auskommt, der sollte in meinen Augen vielleicht eher nochmal seine Argumente überprüfen, anstatt sich als die verfolgte Unschuld irgendwelcher Kritikverbote zu inszenieren.
Big John hat geschrieben:Da hast Du einen guten Punkt Gollum! Wir könnten uns nicht selbst verteidigen… Wir glaubten bis auf ein paar Jahren noch, dass wir alles mit Worten und Geld befrieden können. Die Zeiten sind vorbei… Unser Verteidigungsminister hatte ja erst kürzlich im TV die Bevölkerung auf Krieg „vorbereiten“ (wie soll man das besser sagen) wollen.
Ja, die Mischung aus Bequemlichkeit und Naivität, die uns an diesen Punkt geführt hat, kommt uns jetzt schon teuer zu stehen und das könnte in naher Zukunft noch sehr viel ungemütlicher werden. Von daher muss man froh sein, dass jemand wie Pistorius endlich mal ein paar unbequeme Wahrheiten ausspricht und dass sich manche nun darüber aufregen, verdeutlicht nur nochmal das Ausmaß an Realitätsverweigerung in unserer friedensverwöhnten Gesellschaft. Man kann nur sehr darauf hoffen, dass seinen Worten auch Taten folgen werden, wenn ich mir aber anschaue, wie wir die angekündigte Zeitenwende bisher angehen, dann kommen mir da leider beträchtliche Zweifel dran.
Big John hat geschrieben:Auch hier ein Beispiel: Am ersten Tag nach den Pro-Palästina Protesten in Berlin war in der Tagesschau von „Rechten“ die Rede. Ich habe es ja live gehört. Als das nicht mehr haltbar war, sprach man von Antisemitismus… Wir haben einen großen Teil der Menschen seit 2015 ins Land „geholt“ . Danach erleichtern bzw beschleunigen wir auch noch den Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit, damit das ja wirklich unsere Probleme werden. Jetzt gefällt uns das aber nicht mehr und nun werden Stimmen laut, welche die Außreise fordern… Gegen wen? Deutsche Staatsbürger?
Ja, auch in der Tagesschau wird ab und an viel Unsinn erzählt und wenn sie das mit den Rechten in dem Zusammenhang so gesagt haben, dann fällt das sicherlich in diese Kategorie. Passt zu der in meinen Augen problematischen Praxis, dass antisemitische Straftaten in der Kriminalitätsstatistik grundsätzlich als rechts klassifiziert werden, wenn die Motivlage uneindeutig oder nicht klar zu rekonstruieren ist.
Und was das Problem des importierten Antisemitismus angeht, dass sich in den Demonstrationen der letzten Wochen offenbart (wobei Antisemitismus in meinen Augen auch nur ein problematischer Aspekt von vielen ist, wenn auf deutschen Straßen nach Geschlechtern getrennt und mit IS/Talibanflaggen in der Hand demonstriert wird), so wird das eine der zentralen Innenpolitischen Herausforderungen der nächsten Zeit sein. Auch hier gilt, es wurde viel zu lange weggeschaut, beschönigt, ignoriert...wir werden sehen was unseren Politikern dazu an Lösungsansätzen einfällt, aber eines kann man grundsätzlich schonmal sagen weil du es ansprichst, zumindest Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit (eh ein schwieriges Konzept finde ich) kann man den deutschen Pass unter bestimmten Voraussetzungen auch wieder entziehen, das liegt durchaus im Bereich des Möglichen.
Big John hat geschrieben:Um aber auch noch auf deine o.g. Worte einzugehen… Nein, wir wissen es nicht mehr, wie das ist… Aber Israel sollten wir bitte nicht nur in die Victim-Rolle stellen… (Zahlen gefällig? Seit 2008 über 6.300 verstorbene Palästinenser sowie über 150.000 Verletzte…. Von Siedlern, der Abschneidung von Infrasturkur etc ganz zu schweigen)
Was heißt denn Victim-Rolle, es ist ja nun schlicht und einfach ein Fakt, dass der Staat Israel seit seiner Gründung existenziell bedroht ist. Am Tag seiner Gründung erklärten ihm sämtliche seiner arabischen Nachbarstaaten den Krieg, viele haben bis heute keinen Frieden mit ihm geschlossen oder sein Existenzrecht anerkannt. Iran macht bis heute keinen Hehl daraus, dass die Vernichtung Israels für ihn eines der obersten Ziele ist, ein Land, das kurz davor ist in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen. Und sowohl im Norden (Hisbollah) als auch im Süden (Hamas) sind Terrororganisationen an der Macht, die sogar nur zu diesem Zweck gegründet wurden und existieren. Das Land und die Bevölkerung werden regeläßig mit Raketen aus Gaza beschossen, es hat schon einen Grund, dass nahezu jedes Haus dort einen Luftschutzkeller besitzt.
Und dieser permanente und dauerhafte Bedrohungs- und Belagerungszustand macht etwas mit einer Gesellschaft und einer Nation. Israel hat sich mit seiner Siedlungspolitik einen unlösbaren Konflikt eingehandelt. Das ist mittlerweile ein Teufelskreis geworden, der die kooperationsbereiten Palästinenser schwächt und die Extremisten stärkt, denen die illegale Landnahme immer wieder neuen Nachwuchs zuführt. Und an dieser Radikalisierungsdynamik würde auch ein militärischer Sieg über die Hamas nichts ändern fürchte ich. Also klar, Israel hat im Umgang mit den Palästinensern wahrlich viele Fehler gemacht, und es werden höchstwahrscheinlich noch weitere folgen, alles andere wäre angesichts der konstanten und über viele Jahrzehnte existenziellen Bedrohung durch seine Nachbarn geradezu erstaunlich. Extremsituationen produzieren extreme Reaktionen. Wir sitzen im sicheren Deutschland, das über eine historisch beispiellos lange Periode nun schon nicht mehr von Krieg direkt betroffen war, und können uns überhaupt nicht mehr vorstellen wie das sein muss. Deshalb sollten wir uns meiner Meinung nach vor zuviel Selbstgerechtigkeit in Acht nehmen was das angeht.
Big John hat geschrieben:Was du schreibst stimmt. Ohne die schrecklichen Taten der Hamas, würden wir jetzt gar nicht schreiben. Aber wo waren die Sendungen und Posts, vor dieser Tat, wenn es arabische Opfer waren? (Auch Kinder und Frauen)
Dass sich Israel wehrt war klar und muss klar sein… Dass die Hamas bewusst zivile Opfer in Kauf nimmt, wird denen vielleicht das Genick brechen. Oder zu Zuspruch führen. Wann hatte die IRA die meisten Zuläufer? Sicher nicht, als es ruhig war….
Herr Röttgen wurde gefragt, ob das Abstellen von Wasser, Strom, Benzin dem Völkerrecht zu vereinbaren wäre? Antwort: Keine Regung. Das müsse Israel wissen.
Mittlerweile sehe ich aber nicht nur ein zur Wehr setzen.
Also zunächst mal gab es in Deutschland immer ein mediales Echo, sobald es in Israel/den Palästinensergebieten irgendwo geknallt hat. Wie gesagt, kein Koflikt weltweit steht auch nur ansatzweise so im Fokus der Berichterstattung wie dieser. Zweitens muss man aber auch ganz klar sagen, ein solches Massaker wie das am 7. Oktober ist auch in der Geschichte dieses Konflikts beispiellos, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Glaubst du nicht, wenn ein bewaffneter israelischer Mob an diesem Tag losgezogen wäre, die Grenze nach Gaza durchbrochen und anschließend mehr als tausend palästinensische Frauen, Kinder, Babys, Greise auf die barbarischste Art und Weise gefoltert, vergewaltigt, entführt und abgeschlachtet hätte, dann hätte es darüber mindestens genauso viele Berichte und weniger Aufmerksamkeit gegeben? DAS wäre an dieser Stelle die passende Analogie, alles andere ist eine schiefe Ebene.
Was, außer einem sich zur Wehr setzen, siehst du denn noch? Israel wird nach wie vor täglich von Hamas Raketen und Drohnen angegriffen, wie schlägst du vor sollten sie damit umgehen? Und was den Stop der Wasser, Strom und Treibstoffzufuhr für den Gazastreifen angeht, ja das ist für die Zivilbevölkerung furchtbar. Aber auch hier sind wir wieder beim Thema Doppelstandards, von welchem anderen Staat der Welt würde man verlangen, die gegnerische Kriegspartei humanitär zu versorgen? Die Autorin Mirna Funk hat es in der NZZ wie ich finde durchaus treffend formuliert, "Juden abschlachten, ihnen den Tod wünschen und gleichzeitig von ihnen Essen, Wasser und Elektrizität fordern, entbehrt nicht einer gewissen Ironie."
Nebenbei, in kaum ein Gebiet der Welt fließt soviel Geld für Aufbau und Wiederaufbau wie in den Gazastreifen. Hat eigentlich mal jemand gefragt, warum die, nachdem Israel sich dort schon 2005 vollständig zurückgezogen hat, immernoch keine eigene Strom- und Wasserversorgung haben auf die Beine stellen können? Liegt es vielleicht daran, dass die Hamas die von der EU bezahlten Wasserrohre lieber alle ausgebuddelt und zum Bau von Raketen verwendet hat?
Ich kann
diesen BBC Artikel von gestern nur sehr empfehlen, um mal ein Bild davon zu bekommen, wie Israel im Gazastreifen agiert. Dass sie wirklich weitestgehend versuchen das Mögliche zu tun, um die Zivilbevölkerung dort so wenig wie möglich in Mitleidenschaft zu ziehen. Es gibt nach wie vor humanitäre Korridore die offen gehalten werden, um eine Flucht aus dem nördlichen Gaza zu ermöglichen, es gibt den Versuch, Gebäude so gut wie möglich zu evakuieren, bevor man sie angreift und es wurden heute wohl auch tägliche Feuerpausen beschlossen. Trotzdem bleiben zivile Opfer natürlich nicht aus, es sind viel zu viele und das ist schlimm. Aber wer von den Israelis noch mehr verlangt als das, der möge mir bitte konkret erklären, wie er in einem solchen Fall vorgehen würde, immer mit der Vorstellung im Kopf es wäre das eigene Land, das Opfer eines solchen Massakers geworden wäre.
Big John hat geschrieben:Doch, genau um das geht es auch!
Ich stelle nicht Israel gleich mit der Hamas. Mir ist auch nicht ein Menschenleben lieber, als das andere. Wir müssen uns aber schon fragen dürfen, wohin wir wollen und wo wir für uns eine Grenze setzen wollen. Auch in der Unterstützung oder Kritik. Das ist es, was ich wollte. Die deutsche Polizei verbietet bei Demonstrationen die Sätze: Stoppt den Krieg, das Morden! Wo sind wir angekommen? Da komme ich auf die Frage zurück, auf was wir uns als Gesellschaft verständigen wollen?
Ich glaube, auf all diese Punkte bin ich in diesem inzwischen wirklich viel zu langen Post bereits mehr als zu genüge eingegangen, deshalb zum Abschluss nur nochmal das.
Big John hat geschrieben:Folgendes ist mir sehr wichtig. Ein guter Demokrat hält andere Meinungen aus, oder nimmt diese gar auf. Ich habe lange nachgedacht, ob ich überhaupt was schreibe, da es einfach die falsche Plattform inkl heiklem Thema ist, aber ich denke dein Post „verdient“ eine Antwort (das meine ich positiv).
Dem kann ich zum Abschluss nur beipflichten, deshalb nochmal danke für deine Antwort und ich hoffe ich bin ihr einigermaßen gerecht geworden. Und sorry dass es so lange gedauert hat und vor allem so lang geworden ist, auch bei jedem anderen, der sich das ggfls antut hier